Fichtengrün

Die Fichte spricht
Ihr Menschen, ihr Ungeheuer! Ihr, mit euren Namen! Jedes Ding braucht
seinen Namen, sagt ihr, und verschweigt dabei, dass das Namen-Geben immer
auch ein Nehmen ist. Der Name ist brutal. Er reißt das Ding heraus samt
Wurzeln und versetzt es an einen anderen Ort. Ich weiß es nur zu genau:
Jeder Name ist eine Verpflanzung.
Brotbaum nennt ihr mich (denn ihr seid hungrig) und setzt mich zu
Tausenden selbst in Niederungen und Senken, in trockene Täler, auf
Südhänge und auf Sandböden. Und wenn Dürre und Borkenkäfer mich
dahinraffen, dann nennt ihr das: Katastrophenholz.
Maibaum nennt ihr mich, schält meine Rinde ab, schmückt mich mit
Fähnchen und Wimpeln und präsentiert mich im Frühling auf dem Dorfplatz.
Dort umtanzt ihr mich, damit die Ernte reichlich wird.
Firstbaum nennt ihr mich und kettet mich hoch oben an den Dachstuhl. Dort
soll ich als Herausgerissene dem Haus ein langes Leben schenken.
Pechbaum nennt ihr mich – wegen meines Harzes. Dann brecht ihr die
frischen Maiwipferl, kocht sie, und hofft, dass ihr an ihnen gesundet.
Norway Spruce nennt ihr mich auf englisch und schlagt jede Weihnachten die
Größte und Schönste meiner Art. Dann stellt ihr sie mitten auf den Rockefeller
Square zwischen die Hochhäuser.
Old Tjikko nennt ihr die älteste Fichte der Welt: 9.500 Jahre zähle ich. Damit
ich noch älter werde, wollt ihr einen Zaun aufstellen, um mich vor dem
Herausreißen zu schützen.
Immer müsst ihr Herausreißen. Immer müsst ihr Namen geben.
So ist es nunmal. Aber ich wachse in eure Namen und aus ihnen heraus.
Dort, wo die Namen aufhören, beginne ich zu sprechen.
Lea Wintterlin